Demokratie in der Kommune
Ein Multimedia-Projekt der Lokalredaktionen Löhne und Bad Oeynhausen, Online-Umsetzung: Marten Siegmann
Die Bereitschaft der Bürger bei Wahlen ein Kreuzchen zu machen, schwankte in den vergangenen Jahren. Bei der letzten
Kommunalwahl im Mai 2014 gaben in Löhne 47,46 Prozent der
Wahlberechtigten ihre Stimme ab und in Bad Oeynhausen 49,2 Prozent.
Kommunalpolitiker wünschen sich mehr Beteiligung, schließlich
möchten die gewählten Männer und Frauen die Gesellschaft
im Rat abbilden und sich für die Bürger einsetzen.
„Jeder kann sich einbringen, auch mit kleinen Dingen“, sagt die Fraktionsvorsitzende der Löhner Grünen, Silke Glander-Wehmeier. Und auch Stephie Karger, Ratsfrau der Löhner Linken, begrüßt jede Art von Einbindung: „Neulich als es in Löhne um die Schließung von Spielplätzen ging, hat das hervorragend geklappt, Eltern haben sich zu Wort gemeldet und so konnten Entscheidungen dem Wählerwillen angepasst werden.“ Der Spielplatz am Glockenkamp bleibt.
Mehr konkrete und direkte Rückmeldung wünscht sich Andreas Edler, der die Grünen im Bad Oeynhausener Rat vertritt, von den Bürgern. Auf mehr Kontakt zu den Bürgern hofft Hartmut Vahle, der für die CDU im Bad Oeynhausener Stadtrat sitzt. Und Julian Noweck fordert die Bürger auf, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen. Für viele Bürger sei Politik nur noch ein rotes Tuch. Das meiste bestehe nur noch aus Meckern, bemerkt Glander-Wehmeier.
Das würde auch daran liegen, so die Grünen-Politikerin, dass durch
die klammen Kommunen kaum noch Mittel bereit stehen. Doch was wünschen sich die Bürger eigentlich von ihren in den Rat gewählten Vertretern und was erwarten die Politiker von den Löhnern und Bad Oeynhausenern?
Die Neue Westfälische hat aus beiden Städten Ratspolitiker und Bürger gefragt, was sie sich vom jeweils anderen Part wünschen. Klicken Sie sich durch unsere Fotostrecke:
Frauen bekommen Mut zur Politik
Ein Mentoring-Programm setzt auf Tandem-Prinzip.
Einsteigerinnen werden von erfahrenen Mandatsträgerinnen betreut
Löhne/Bad Oeynhausen. Mit 51,6 Prozent bilden Frauen in Bad Oeynhausen die Einwohnermehrheit – im Stadtrat liegt ihr Anteil aber nur bei 25 Prozent. Ähnlich sieht das in Löhne aus: 21.053 der 41.751 Einwohner sind Frauen, im 45-köpfigen Rat sind aber nur neun Mandatsträger weiblich.
„Das könnte sich schon bei der nächsten Kommunalwahl 2020 ändern“, hofft Karla Rahlmeyer, Gleichstellungstellungsbeauftragte der Stadt Bad Oeynhausen. Zusammen mit ihrer Lübbecker Kollegin Angelika Lüters-Wobker betreut sie die ostwestfälischen Teilnehmerinnen des Mentoring-Programms „Mehr Frauen für die Politik“. „Erfreulich groß“ findet sie die Zahl der Bewerbungen, 90 Frauen zeigten Interesse, darunter auch drei aus Bad Oeynhausen sowie eine Löhnerin.
„Ich finde es spannend, Politik vor der Haustür zu machen“, nennt die 36-jährige Annika Riechmann ihre Motivation. Die Juristin arbeitet bei der Kreisverwaltung Herford, lebt in Bad Oeynhausen und war bislang „nur politisch interessiert, aber nicht aktiv“. Denn: „Einfach eine Parteiversammlung zu besuchen, habe ich mich nicht getraut“.
Diese Einstiegshürde wird durch das Projekt genommen, das Programm setzt auf das Tandem-Prinzip: Jede Einsteigerin bekommt eine erfahrene Politikerin als Mentorin zur Seite, die sie über ein Jahr lang persönlich betreut.
Etwa alle vier bis sechs Wochen treffen sich die beiden Frauen; über den Inhalt der Gespräche wird – das ist eine Vorgabe der Projektleiter – Stillschweigen vereinbart, nur so viel mag Riechmann verraten: „Ich bekomme einen realistischen Einblick und traue mir jetzt politische Arbeit durchaus zu“.
Eine Einschätzung, ganz im Sinne ihrer Mentorin. „Frauen müssen einfach Mut haben, sich zu engagieren“, sagt die Löhner Landtagsabgeordnete Angela Lück (SPD). Insofern könnten sie durchaus von Männern lernen: „Die übernehmen einfach eine Aufgabe, machen sich vorher nicht so viele Gedanken, ob sie das überhaupt können“. Lück: „Vor Ort ist jeder Profi, weil er die Probleme aus seinem Alltag und seiner Umgebung kennt“. Abgesehen vom Mut machen, hat aus Sicht der Landtagsabgeordneten das Projekt noch einen zweiten Vorteil: „Es hilft Frauen, sich zu vernetzen.“
Dass Kontakte und Beziehungen die politische Arbeit ganz entscheidend erleichtern und fördern – diese Erkenntnis gibt auch Helke Nolte-Ernsting weiter. Die stellvertretende Bad Oeynhausener Bürgermeisterin, selbst seit über 20 Jahren für die CDU im Einsatz, beteiligt sich als Mentorin für die Mindenerin Undine Brockmeyer.
Ihre eigene politische Karriere habe, so die Ratsfrau, im heimischen Wohnzimmer begonnen – bei den Treffen ihres Ehemannes mit Mitgliedern der CDU Ortsunion. Helke Nolte-Ernsting: „Ich habe mich da immer eingemischt.“
Selbstvertrauen und Zielstrebigkeit hält sie im politischen Alltagsleben für ganz wichtige Eigenschaften. Und die bringen, da ist sie sich mit Angela Lück völlig einig, auch Frauen mit. Mut will sie den Einsteigerinnen machen, sich nicht nur um vermeintlich weiche Themen – etwa im Sozialausschuss – zu kümmern. Wie Karla Rahlmeyer hofft auch sie, dass es nach den nächsten Kommunalwahlen in Löhne und Bad Oeynhausen mehr weibliche Ratsmitglieder gibt. Und Helke Nolte-Ernsting hat dafür auch noch einen ganz konkreten Rat parat: „Man darf nicht warten, bis man dran kommt.“
Bad Oeynhausen/Löhne. Immer mehr Menschen kehren den Parteien den Rücken. Bundesweit ist in den vergangenen 20 Jahren ein deutlicher Rückgang bei den Mitgliedschaften zu verzeichnen. Auch in Bad Oeynhausen und Löhne müssen die beiden großen Volksparteien – SPD und CDU – große Verluste verkraften. Trotzdem haben sie immer noch ihre Daseinsberechtigung, betont Detlef Sack, Politikwissenschaftler an der Uni Bielefeld.
Eine immer weiter sinkende Wahlbeteiligung, Parteien mit nur noch 20 Mitgliedern und trotzdem fünf Ratsmitgliedern – können sie eigentlich das Volk repräsentieren? „Sie vertreten Teile des Volkes“, erklärt Detlef Sack. „Sie haben nicht die Funktion, für alle zu sprechen. Sondern nur für die, die sie wählen“, sagt der Professor an der Fakultät für Soziologie. Und das sei ja auch der Grund für die Entstehung der Parteienlandschaft gewesen: „Unterschiedliche Interessen und soziale Lagen werden durch verschiedenen Parteien vertreten.“
Eines aber sei wichtig: Handlungsfähig müssten die Parteien sein. Gerade auf lokaler Ebene gebe es eine deutliche Zersplitterung der Parteienebene, weil die Sperrklauseln fehlten. Positiv daran: „Das ist super, weil viele verschiedene Interessengruppen im Rat vertreten sind. Zudem können problemspezifische Mehrheiten gefunden werden.“ Negativ: „Es kann durchaus passieren, dass es in den Kommunen keine klare Gesamtstrategie gibt – weil adhoc mal in die eine, dann in die andere Richtung entschieden wird“, hat Sack beobachtet. Dabei brauche es gerade für klamme Kommunen eine Gesamtstrategie.
49,2 Prozent der Bad Oeynhausener gingen bei der letzten Kommunalwahl im Mai 2014 zur Urne, bei der Bürgermeisterwahl 2015 waren es sogar nur rund 39 Prozent der Bad Oeynhausener, die ihre Stimme abgegeben haben. In Löhne machten 42,26 Prozent der Bürger ihr Kreuzchen bei der Bürgermeisterwahl. „Die Wahlbeteiligung verändert sich mit dem Aufkommen neuer Parteien, siehe AfD“, erklärt Detlef Sack. „Es werden aber nicht nur die neuen Parteien gewählt, sondern auch andere profitieren – es gibt eine größere Mobilisierung durch die neuen in der politischen Landschaft.“
Die Wahlbeteiligung ist aber nicht nur insgesamt rückläufig, sondern auch innerhalb der Städte unterschiedlich stark schwankend. „Sie geht vor allem in den Vierteln zurück, in denen es eine hohe Arbeitslosigkeit gibt, geringe Einkommen, geringe Bildung, dichte Bebauung und wenig Infrastruktur“, führt Sack aus. Bundesweit sei dieser Rückgang in den sogenannten Armenviertel deutlich zu spüren und wissenschaftlich erwiesen. „Ich habe bei der letzten Kommunalwahl eine Anfrage aus Minden bekommen, weil es dort in einem Bezirk eine Wahlbeteiligung von 20 Prozent gab“, erinnert sich Detlef Sack. „Ich kannte das Viertel nicht. Aber ich konnte sofort sagen, wer dort lebt.“ Und der Politikwissenschaftler hatte ins Schwarze getroffen. „Das macht auch deutlich, dass diese Problemviertel und ihre Anliegen im Rat unterrepräsentiert sind.“
Doch wie können die Löhner und Bad Oeynhausener für Politik begeistert, wie zum Mitmachen angeregt werden? „Zum einen sind Bürgerbegehren, Bürgerentscheide eine Form der Erweiterung von Demokratie, bei denen gewissermaßen die Bürger die Entscheidung herbeiführen, zum anderen die Bürgerbeteiligungen.“ Immer mehr Planungsabteilungen in den Städten seien mittlerweile dazu übergegangen, eine offenere Form der Stadtteilplanung anzubieten.
Ob man aber die Problemgruppen erreiche, die die es betreffe, hänge vom Verfahren ab. „Lade ich offen ein, sitzen da immer die Gleichen. Männer ab 50, mit mittlerem bis hohem Einkommen und mindestens Hochschulreife“, so Sack. Anders ginge es mit der Zufallsauswahl: „Ich wähle zufällig Adressen aus dem Stadtteil aus, schreibe sie an, dann breche ich die Strukturen auf, es kommen mehr – und vor allem andere Menschen.“ Eine weitere Möglichkeit sei die repräsentative Auswahl: „Ich wähle in den Stadtteilen explizit nach sozialen Schichten aus – dafür muss ich aber stärker nachfragen.“
Die Schule der Demokratie
Die kommunale Selbstverwaltung und damit auch die Räte verdanken ihre Existenz einem preußischem Reformprojekt, das als Reaktion auf die Niederlage gegen Napoleon umgesetzt wurde. Auch die Räte in Löhne und Bad Oeynhausen sind keine Parlamente
Es beginnt mit einer Niederlage. Napoleon Bonaparte schlägt am 14. Oktober 1806 die vielgerühmte preußische Armee bei Jena und Auerstedt vernichtend. Der zwei Wochen später geschlossene Friede von Tilsit besiegelt die größte Niederlage in der preußischen Geschichte. Diese Katastrophe begreifen einige Staatsdiener als Fanal, Preußen grundlegend zu reformieren.
Die Minister Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein und Karl August Freiherr von Hardenberg, die Militärs Gerhard von Scharnhorst und August Wilhelm Neidhardt Gneisenau und der Gelehrte Wilhelm von Humboldt führen die Bewegung an. Wesentlicher Teil ihrer Reformen ist die „Preußische Städteordnung von 1808“. Dieser ersten kommunalen Verfassungsreform kam die Aufgabe zu, das bürgerschaftliche Engagement für die öffentlichen Angelegenheiten zu wecken und dadurch auch die wirtschaftliche Situation zu verbessern. Stein und Hardenberg gehen davon aus, dass mehr Freiheit und Selbstverwaltung bei den Bürgern ökonomische Energien freisetzen und die Bereitschaft stärken werden, sich auch finanziell für die Interessen des Staates zu engagieren. Gleichzeitig sollte die kommunale Dezentralität einen Zusammenbruch wie den nach der Niederlage gegen Napoleon verhindern.
Die preußischen Reformen sind auch die Grundlage für die Aufnahme der Selbstverwaltung in das Grundgesetz: In Artikel 28 Absatz 2 spricht die Verfassung eine institutionelle Garantie aus; das bedeutet, die Gemeinden haben das Recht, „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaften im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln.“ Das macht die kommunale Vertretungskörperschaft – der Rat. Der ist aber – obwohl viele Kommunalpolitiker das anders sehen – kein Parlament, denn staatsrechtlich ist sie Teil des Landes und somit Teil der Exekutive: Dem Rat fehlt schlicht die Gesetzgebungskompetenz. Das aber hat vor allem die Parteien nicht daran gehindert, die Kommunalpolitik zur Schule der Demokratie zu erklären und hier an der Basis ihr politisches Personal zu rekrutieren.
Dabei gilt holzschnittartig: Je größer die Kommune ist, desto größer ist der Einfluss der Parteien. Grundsätzlich ist zu beobachten, dass aus der kommunalen Konsenskultur, in der der Rat prinzipiell die Lösung eines bestimmten Problems in den Fokus rückte mehr und mehr eine Konkurrenz-Demokratie geworden ist, in der (parteipolitische) Programme um Zustimmung und Einfluss im Wettbewerb ringen. Wir stellen an dieser Stelle die Räte von Löhne und Bad Oeynhausen vor.
Der Bad Oeynhausener Stadtrat
Eine Stimme entscheidet 1984 die Kommunalwahl
Die Gebietsreform ermöglicht Wahlerfolge für die Sozialdemokarten
Verhalten ist die Begeisterung für Politik nach dem Zusammenbruch. Am 26 November 1945 berichtet die Kreispolizeibehörde dem Mindener Landrat: „In der breiten Öffentlichkeit ist eine politische Bestätigung fast gar nicht wahrzunehmen. Die meisten Volksgenossen lassen offen einen Widerwillen beziehungsweise eine Müdigkeit gegenüber der Politik erkennen. Von vielen wird sogar die Politik oder eine Bindung an eine Partei grundsätzlich abgelehnt.“ Es sind die Gewerkschaften, die unverzüglich nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrer Reorganisation beginnen. Seit 1946 leitet der Sekretär der Gewerkschaft Holz, Wilhelm Ohm, hauptamtlich die Nebenstelle Bad Oeynhausen des Kreisausschusses des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).
Die ersten Kommunalwahlen nach dem Krieg sehen am 15. September 1946 in Bad Oeynhausen die CDU als Sieger. 8.229 Kurstädter geben den Christdemokraten ihre Stimme (10 Sitze). Die SPD kann 6.557 Stimmen auf sich vereinen (7). Die KPD kommt auf 1.588 Stimmen (1). Zwei Jahre später am 17. Oktober 1948 gehen deutlich weniger Kurstädter zur Urne. Der Grund: Die Briten hatten die Kernstadt evakuiert und dort ihr Hauptquartier eingerichtet. Die CDU kommt noch auf 1.818 Stimmen (7), die SPD auf 1.321 Stimmen (5) und die KPD erringt 196 Stimmen (ein Überhangmandat). Sehr erfolgreich fügt sich die FDP in den kommunalen Reigen ein. Die Liberalen treten bei der Kommunalwahl am 9. November 1952 an und erringen 1.536 Stimmen (7). CDU (1.751 Stimmen, 8 Sitze) und SPD (1.731 Stimmen, 8 Sitze) liegen fast gleich auf. Die KPD holt nur noch 106 Stimmen. In den folgenden Jahren dominiert die Union die Kommunalwahl bis zur Gebietsreform. Zum 1. Januar 1973 entsteht durch das Bielefeld-Gesetz die Stadt Bad Oeynhausen in ihren heutigen Grenzen. Der Reform geht eine lange Phase der Beratungen und Abstimmungen voraus, vor allem zwischen dem früheren Amt Rehme und der damaligen Stadt Bad Oeynhausen. Hinzu kommen die Arbeitsgruppensitzungen auf Landesebene, die schließlich zum Beschluss des Bielefeld-Gesetzes am 24. Oktober 1972 führen.
Am 25. März 1973 durchbricht die SPD in dieser neuen Kommune die alte Vorherrschaft der CDU. Die Sozialdemokraten erringen 11.357 Stimmen (46,3 Prozent) und ziehen mit 19 Mandatsträgern in den Rat ein. Die Union kommt auf 10.368 Stimmen (42,3 Prozent) und 18 Mandate. Für die FDP stimmen 2.789 Wahlberechtigte (11,4 Prozent, 4 Mandate). Zwei Jahre später hat die Union wieder die Nase vorn. Sie gewinnt mit 12.861 Stimmen (46,4 ) vor der SPD, die von 12.262 Wahlberechtigten gewählt wird (44.3 Prozent). Bei der vierten Kommunalwahl nach der Gebietsreform am 30. September 1984 entscheidet eine Stimme den Wahlausgang. Die SPD kommt auf 10.691 Stimmen und 42,253 Prozent. Die Nachkommastellen werden wichtig, denn für die Union stimmen 10.690 Kurstädter (45,249 Prozent). Die SPD bekommt dafür 21, die Union 20 Mandate. Die FDP wird wegen eines gravierenden Formfehlers nicht zur Wahl zugelassen. Erstmals ziehen die Grünen /Bürgerforum mit vier Mandaten in den Rat ein (2.244 Stimmen). In den folgenden Jahren sinkt die Wahlbeteiligung und der Rat wird bunter. 2009 ziehen sieben Parteien und Wählergemeinschaften in den Rat ein: CDU (6.478), SPD (5.970), Die Grünen (1.790), BBO (1.788), FDP (1.409), UW (1.112), Linke (732).
Frauen sind unterrepräsentiert
Die CDU stellt das älteste und das jüngste Ratsmitglied. Die SPD bildet die älteste Fraktion
Der Rat hat in der laufenden Legislaturperiode zwölf Ausschüsse gebildet, in denen die eigentliche politische Arbeit stattfindet.
Das Durchschnittsalter des Rates liegt bei 55, 6 Jahren, wobei die Linken mit Abstand die jüngste Fraktion (37 Jahren) stellen. Rechnet man den FDP Einzelkämpfer Wilhelm Ober-Sundermeyer (72 Jahre) heraus, dann stellen die 14 Sozialdemokraten mit einem Durchschnittsalter von 60,9 Jahren die älteste Fraktion, gefolgt von den Grünen (58 Jahre) der BBO (53 Jahre), der CDU (52,8 Jahre) und den Unabhängigen Wählern (50 Jahre). Die Christdemokraten stellen mit Martin Pönnighaus (75 Jahre) und Julian Noweck (29 Jahre) das älteste und jüngste Ratsmitglied.
Friedhelm Schäfer ist mit 73 Jahren der älteste Sozialdemokrat im Rat. Das jüngste Fraktionsmitglied der SPD ist Andreas Below (42). Unterrepräsentiert sind die Frauen im Rat. Sie stellen nur 11 der 44 Mandatsträger (plus Bürgermeister). Vier Männer und eine Frau entsenden die Bündnisgrünen in das Gremium; BBO, und UW sind reine Herrenclubs. Die Linken haben eine Frauenquote von 50 Prozent, denn mit Nadja Büren ist eine von zwei Ratsmitgliedern weiblich. Fünf Damen zählt die SPD in ihrer 14-köpfigen Fraktion. Die Unionsfraktion, die 16 Mitglieder hat, kann auf nur vier Frauen verweisen. Den Vorsitz im Rat führt laut Gemeindeordnung der Bürgermeister, der direkt gewählt wird. In Bad Oeynhausen nimmt seit dem 21. Oktober 2015 Achim Wilmsmeier (SPD) diese Aufgabe war.
Der Löhner Stadtrat: Die erste Wahlurne war eine Munitionskiste
Viele Jahre gab es in der Werrestadt ein Zweiparteiensystem aus SPD und CDU
Nach dem Krieg mussten die demokratischen Strukturen erst aufgebaut werden. Die ersten freien Wahlen in Löhne wurden am 15. September 1946 durchgeführt. Damals waren 17.827 Löhnerinnen und Löhner wahlberechtigt. Allerdings wurden 154 von ihnen wegen ihrer politischen Vergangenheit ausgeschlossen. Die Militärregierung schloss Menschen aus, die Mitglieder der NSDAP waren oder ihr sehr nahe standen.1946 war Löhne noch mehr als 20 Jahre von der Stadtgründung entfernt. Gewählt wurde in den Gemeinden. Die bestanden aus Gohfeld, Mennighüffen, Löhne und Obernbeck.
Das war ein starkes Symbol für die ersten demokratischen Wahlen nach dem Zweiten Weltkrieg: Die erste Wahlurne in einem Obernbecker Wahllokal war eine ehemalige Munitionskiste. „Besser kann man eine solche Kiste nicht verwenden“, sagt Stadtarchivar Joachim Kuschke. Diese Wahlurne ist längst Teil der Ausstellung im Heimatmuseum.
Die erste Wahl brachte einen Erdrutschsieg für die SPD. Die Sozialdemokraten kamen in allen Gemeindevertretungen auf 13 Sitze. In Gohfeld erreichte die CDU 7 Sitze und in Mennighüffen, Löhne und Obernbeck jeweils 2. Die KPD kam in Gohfeld und Mennighüffen auf jeweils 1 Sitz. Gewählt wurde auch damals bis zur Stadtgründung das Amt Löhne. Es nahm die übergeordneten Aufgaben für die Gemeinden auf dem heutigen Stadtgebiet wahr.
„Dass die KPD in zwei Gemeinderäten vertreten war, lag wahrscheinlich an Josef Lemke. Der war als Widerstandskämpfer gegen die Nazis sehr respektiert“, sagt Stadtarchivar Joachim Kuschke.
Eine Besonderheit stellte in allen Wahlen bis zur Stadtgründung die Gemeinde Ulenburg dar. Dort stellte sich außer einer und später zwei Wählergemeinschaften keine der anderen Parteien zur Wahl.
Die FDP nahm zum ersten Mal im Jahr 1948 an Wahlen in Löhne teil. Zwei Sitze errang sie damals im Mennighüffener Gemeinderat. „Zur dritten Kraft wurde sie aber erst mit den Wahlen zum Stadtparlament 1969“, schreibt der Stadtarchivar in der Chronik.
Einmalig stellten sich im Jahr 1952 der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten zur Wahl.
Bis zur ersten Wahl des Stadtrates kann man in Löhne von einem Zweiparteiensystem sprechen, ergänzt durch Einzelsitze von Freien Wählern aus Ulenburg und Mennighüffen. Das änderte sich mit dem 23. März 1969. Die ersten Kommunalwahl in der Stadt Löhne brachte erneut die SPD (54,5 Prozent) als großen Sieger hervor. Die CDU kam auf 35,7 Prozent und die FDP auf 9,93 Prozent. Die Liberalen sind seit dieser Wahl ohne Unterbrechung im Stadtrat.
Vielfältiger wurde der Rat durch den Einzug der Bunten Liste in den Stadtrat nach der Kommunalwahl 1989. Aus dieser Gruppierung gründete sich 2008 der Löhner Stadtverband der Linken. Die Partei sitzt seitdem ebenfalls ohne Unterbrechung im Rat.Als neue Wählergemeinschaft präsentierte sich 2001 die Löhner Bürger Allianz (LBA) den Wählern. Sie wurde vom ehemaligen CDU-Mitglied Hermann Ottensmeier gegründet. Er war von seiner Partei und der SPD als stellvertretender Bürgermeister im Streit abgewählt worden und danach aus der CDU ausgetreten. Auch diese Gruppierung ist seitdem ohne Unterbrechung im Rat der Stadt Löhne vertreten.
Eher männlich, eher älter
Im Stadtparlament sind von den 44 Ratsmitgliedern nur 10 weiblich. Viele Politiker sind über 60 Jahre alt
Die SPD ist seit den ersten demokratischen Wahlen nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1946 die stärkste Partei in Löhne.
Das gilt auch für den aktuellen Stadtrat, in dem sie 18 Sitze hat. Die Männer sind mit 14 Mandaten in der Fraktion deutlich in der Überzahl. Nur vier SPD-Ratsmitglieder sind weiblich. Mit 62,3 Jahren haben die Sozialdemokraten im Löhner Rat ein recht hohes Durchschnittsalter.Jüngstes Ratsmitglied aus dieser Partei ist Maik Nowack (36). Ältestes Mitglied der SPD im Rat ist Dieter Schneider mit 78 Jahren.
Auch bei der CDU sind die Männer im Rat in der Mehrheit. Nur 3 der 15 Ratsmitglieder sind weiblich. Die CDU ist im Schnitt deutlich jünger als die SPD. Bei der Union beträgt das Durchschnittsalter der Ratsmitglieder 48,9 Jahre. Jüngster im Rat ist René Detert (25). Ältestes CDU-Ratsmitglied ist mit 76 Jahren der stellvertretende Bürgermeister Herbert Ogiermann.Von den vier grünen Ratsmitgliedern sind zwei weiblich. Die jüngste ist Kerstin Prätorius mit 48, der älteste Dieter Glander mit 58 Jahren. Das Durchschnittsalter beträgt 51,5 Jahre. Mit 63,8 Jahren liegt das Durchschnittsalter bei der LBA, die durch vier Männer vertreten wird, deutlich höher. Ältestes Fraktionsmitglied ist Georg Held mit 79 Jahren, jüngstes Peter Weidenbörner mit 52 Jahren. Die Linke hat zwei Sitze im Rat. Ulrich Adler (64) und Stephie Karger (58) vertreten die Partei. Der 61 Jahre alte Uwe Neuhaus sitzt als Einzelkämpfer für die FDP im Rat.
Bad Oeynhausen/Löhne. Wie transparent arbeiten die Verwaltungen der Städte Bad Oeynhausen und Löhne? „Grundsätzlich ist alles öffentlich”, antwortet Bernd Poggemöller. „So sehen es das Grundgesetz und die Landesverfassung vor”, so der Löhner Bürgermeister. Allerdings gibt es Ausnahmen, und für die gibt es gesetzliche Vorgaben.
Diese Ausnahmen sind auch der Grund dafür, warum es trotz aller Offenheit Sitzungen gibt, die hinter verschlossenen Türen stattfinden. „In nicht-öffentlicher Sitzung werden beispielsweise Grundstücks- und Personalangelegenheiten verhandelt”, fügt Bad Oeynhausens Bürgermeister Achim Wilmsmeier hinzu. Bei welchen Angelegenheiten das Öffentlichkeitsprinzip ausgeklammert ist, ist in der jeweiligen Geschäftsordnung für den Stadtrat festgelegt. So weit, so gleich.
Ein technisches Problem
Dennoch ist der Umgang mit den nicht-öffentlichen Angelegenheit in den beiden Städten unterschiedlich. Während die Stadt Löhne auf der Tagesordnung jeder Ausschusssitzung auch die Themen anreißt, die nicht-öffentlich beraten werden, lässt sich an den Bad Oeynhausener Sitzungsunterlagen noch nicht mal erkennen, ob es überhaupt einen nicht-öffentlichen Teil gibt. Das sei ein rein technisches Problem, versichert Bürgermeister Wilmsmeier. Im Rathaus hofft man derweil, dass dieses Problem noch in diesem Jahr behoben werden kann.
Öffentlich oder nicht-öffentlich? Der Spielraum müsse in jedem einzelnen Fall ausgelotet werden, jedes Vorhaben einzeln bewertet werden, sagt Poggemöller. Vieles sei aber auch eine Frage des Stils. Eine Ausnahme bilden Personendaten: „Die genießen immer einen besonderen Schutz”, weiß Poggemöller. Auch bei Grundstücksverhandlungen, wenn es um Zahlungsmodalitäten geht, sei Vorsicht oberstens Gebot. „Schließlich kann eine öffentliche Diskussion über Preisverhandlungen der Gemeinde sogar Schaden zufügen”, führt Poggemöller weiter aus.
Das sei ein Grund dafür, dass Liegenschaftsangelegenheiten häufig in Teilen in öffentlicher Sitzung diskutiert würden, die Vertragsverhandlungen wiederum unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Ein Beispiel für eine solche Misch-Diskussion ist der Verkauf des ehemaligen Fuhrken-Geländes an der Mindener Straße in Bad Oeynhausen. Die gewünschte Ansiedlung eines Edeka-Supermarkt wurde zunächst hinter verschlossenen Türen diskutiert, das Bieter-Verfahren musste öffentlich gemacht werden.
Sprechstunden sind gut besucht
Wilmsmeier hatte das Thema „Transparenz” im Bürgermeisterwahlkampf immer wieder auf die Agenda gehoben. „Mir geht es um die strategischen Ziele der Stadt. Die wichtigen Themen müssen benannt und weiterentwickelt werden – im Zusammenspiel zwischen Rat, Verwaltung und Bürgerschaft”, sagt Achim Wilmsmeier. Ein solches Thema für Bad Oeynhausen sei der Lärmschutz. In dem im Herbst gegründeten Beirat sitzen nun Mandatsträger und interessierte Bürger, die „das Thema bearbeiten”.
Dass Themen wie Klimaschutz, die Entwicklung der Innenstädte, Straßenausbau, Wohnen, Kindergärten, Schulen und ortsteilbezogene Themen die Bürger interessieren, wissen die beiden Bürgermeister Achim Wilmsmeier und Bernd Poggemöller aus vielen Gesprächen und aus ihren Bürgermeistersprechstunden, die beide Donnerstagsnachmittags anbieten. „Die sind immer sehr gut besucht”, sagen beide unisono.
Bad Oeynhausen/Löhne. Demokratie bedeutet Macht, die vom Volke ausgeht. Erfunden haben diese Staatsform die alten Griechen. Erstes Mittel der Mitwirkung von Bürgern ist das Recht auf freie Wahlen. Doch Bürger haben mehr Möglichkeiten, auf Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Mitunter braucht es dafür aber einen sehr langem Atem. Der Gesetzgeber räumt hier eine ganze Palette von Möglichkeiten ein – vom niederschwelligen Angebot der Anregung bis zum mit vielen Hürden versehenen Bürgerentscheid.
Anregungen und Beschwerden
Einzelpersonen oder Gruppen wenden sich mit ihrem Anliegen an die Stadt. „Das sind Bürgerbegehren für Einsteiger. Die Verwaltung ist verpflichtet, das Anliegen des Petenten aufzuarbeiten und dem Hauptausschuss vorzustellen. Die Entscheidung fällt dann der Rat“, erklärt Kerstin Vornheder vom Büro des Bürgermeisters und des Rates in Bad Oeynhausen. Häufige Themen von Beschwerden sind Sanierungen von Rad- oder Gehwegen. In Löhne ist die Partnerschaft mit dem Fußball-Zweitligisten Arminia Bielefeld auf eine solche Anregung zurückzuführen. In Bad Oeynhausen gibt es die Anregung, den Schwarzen Weg in Dr-Walter-Kronheim-Straße sowie die Straße „Am Wiesental“ nach dem Landwirt Karl Steinmeyer zu benennen. Auf die Anregung folgte eine Anwohnerbeschwerde, die Umbenennung aus Kostengründen zu unterlassen.
Einwohnerantrag
Ein solcher Antrag muss schriftlich bei der Stadt eingereicht werden. Der Einwohnerantrag muss bis zu drei Personen nennen, die berechtigt sind, den Unterzeichnenden zu vertreten. Der Antrag muss das Begehren nebst Begründung enthalten. Der Antrag muss sich auf eine Angelegenheit beziehen, die in die Zuständigkeit der Stadt fällt. „Alles, was auf Landes- und Bundesebene gesetzlich geregelt ist, kann nicht Inhalt eines Einwohnerantrags sein“, führt Kerstin Vornheder aus. Die Petenten müssen hier den Bürgerwillen durch Unterschriftenlisten darlegen. „Die Listen müssen leserlich ausgefüllt sein. Jeder Unterzeichner muss seinen vollständigen Namen, seine Anschrift und sein Geburtsdatum eintragen. Alles, was nicht erkennbar ist, ist ungültig“, fügt Vornheder hinzu.
Damit der Einwohnerantrag dem Rat zur Entscheidung vorgelegt werden kann, müssen 5 Prozent der Einwohner unterschrieben haben. Für dieses Quorum braucht es in der Kurstadt etwa 2.500 Unterschriften, in Löhne etwa 2.000. Der jeweilige Stadtrat muss dann entscheiden, ob der Einwohnerantrag zulässig ist. Und er muss innerhalb von vier Monaten darüber beraten und entscheiden. „Der Aufwand ist sehr groß und es erfordert präzise Arbeit von den Petenten“, weiß Kerstin Vornheder um die hohe Hürde, die bei dieser Bürgerbeteiligung zu nehmen ist.
Bürgerbegehren/ Bürgerentscheid
„Das Bürgerbegehren ist die stärkste Waffe, die die kommunale Selbstverwaltung zu bieten hat“, so Vornheder. Ziel des Begehrens ist, dass alle Bürger, die zur Kommunal- oder zur EU-Wahl berechtigt sind, per Bürgerentscheid über ein Anliegen abstimmen. „Allerdings“, sagt Vornheder, „gibt es eine Reihe von Themen, die nicht Inhalt eines Bürgerbegehrens sein dürfen: Die Organisation der Verwaltung, die Belange von Bediensteten, Haushaltsabschlüsse, Planfeststellungsverfahren, Bauleitplanungen.“
Für die Unterschriftenlisten gelten die gleichen strengen Regeln wie beim Einwohnerantrag. Außerdem muss die Fragestellung, die mit Ja oder Nein zu beantworten sein muss, auf jedem einzelnen Blatt stehen. Die Frage muss verständlich und begründet sein. „Auch eine Kostenschätzung der Verwaltung muss beigefügt sein, damit sich jeder Bürger ein Bild über die finanzielle Belastung für die Stadt machen kann“, erläutert Vornheder. Die Verwaltung ist verpflichtet, den Petenten zu helfen, und der Rat muss die Zulässigkeit prüfen. Für den Erfolg eines Begehrens müssen 20 Prozent der Wahlberechtigten zustimmen. Dafür sind in Bad Oeynhausen bei 40.000 Wahlberechtigten 8.001 Stimmen notwendig.
Ratsbürgerentscheid
Will der Stadtrat die Bürger über eine Angelegenheit abstimmen lassen, ist zunächst eine Zweidrittelmehrheit des Rats notwendig. In Bad Oeynhausen strebt die Politik eine solche Entscheidung in punkto Wasserenthärtungsanlage an, um den Bürgerwillen auszuloten.
“Wendepunkt Quellenschutz”
Notgemeinschaft: In Spitzenzeiten demonstrierten an die 1.000 Bürger gegen die Nordumgehung. Mit Baubeginn hat Verein die Aktivitäten eingestellt
Die Anfänge liegen weit zurück. Als einst der Zubringer in Rehme gebaut wurde, formierte sich erstmals die Notgemeinschaft. Die Hochzeit aber war sicherlich der Kampf gegen die Nordumgehung – doch der ist letztlich gescheitert. „Heute wissen wir, dass wir nicht falsch gelegen haben“, ist Vorsitzender Klaus Rasche überzeugt. „Denn mit einer Tunnel-Trog-Lösung hätte sich auch der Rückbau der Mindener Straße erledigt.“ Obwohl sich der Bürgeraktivist im Laufe der Jahre so manches Mal in Frage gestellt hat („Wenn alle gegen einen sind, ist das, glaube ich, normal.“) ist er heute zufrieden, sich engagiert zu haben: „Wir haben es wenigstens versucht“, sagt Klaus Rasche.
Mitte der 80er Jahre hat sich Rasche erstmals bei der Notgemeinschaft engagiert. „Im damaligen Kommunalwahlkampf waren wir aktiv dabei“, erinnert er sich. Ihr Ziel: die Tunnel-Trog-Lösung für Mindener und Kanalstraße. „Die Machbarkeitsstudie war positiv.“ Bis zu dem Tag, als die Kreuzung Mindener Straße/Eidinghausener Straße Unfallschwerpunkt wurde. „Der Rat sprach sich für eine Unterführung aus.“ Und erfuhr, dass Bohrungen dem Kurbad schaden. „Der Quellenschutz war der Wendepunkt zur Nordumgehung“, ist Rasche überzeugt.
In Spitzenzeiten hatten die Notgemeinschaft an die 800 Mitglieder, mit Sympathisanten wurde locker die 1.000er-Marke erreicht. Viel für eine Bürgerbewegung – aber nicht genug. „In der von der Nordumgehung betroffenen Region wohnen zirka 10.000 Menschen – wenn die alle vor dem Rathaus gestanden hätten, wäre es anders ausgegangen.“ Vor allem die persönliche Betroffenheit hat einst viele Menschen motiviert. Und später dann frustriert. „Man muss mit der Entscheidung umgehen, ärgern bringt nicht weiter“, winkt Rasche ab. Auch wenn letztendlich das Urteil vorm Bundesverwaltungsgericht in vielen Bereich nicht nachvollziehbar gewesen sei. „Wir haben damals vieles gefordert“, sagt Rasche. „Denn wenn die Nordumgehung kommt, dann sollte die Stadt gewisse Bedingungen stellen.“ Passiert sei aber nichts. „Die Stadt hat sich schlecht verkauft“, urteilt der Vorsitzende. Heute gibt es den Verein nur noch auf dem Papier. Die Aktivitäten wurden mit Baubeginn eingestellt. Rasche: „Wir haben aber noch Einzelpersonen bei Verkauf und Enteignung unterstützt.“
“Ruderer waren knapp”
Bündnis für Vielfalt: Sprecher Jürgen Birtsch will den braunen Populisten auf den Füßen stehen
Vor fünf Jahren, als plötzlich der Rechtsextremismus mitten in Löhne angekommen war, wurde der Grundstein für das Bündnis für Vielfalt gelegt. Damals gründeten Reichsbürger die „Botschaft Germanitien“ an der Lübbecker Straße. „Diese Töne wollte und will hier niemand haben“, sagt Jürgen Birtsch bestimmt. Der Bündnis-Sprecher weiß noch, das er damals erst ratlos war, sich dann informiert hat und aktiv geworden ist. „Wir sind gestartet, weil es in Löhne plötzlich Leute gab, die tief verstrickt waren in die neonazistische Szene“, erklärt Birtsch. „Die ziehen vor allem Populisten an, die auf kurze Formeln anspringen.“ Denen wolle man „auf den Füßen stehen“.
„Es braucht eine breite Form der Gegenöffentlichkeit.“ Doch wie sollte diese aussehen? Welche Form musste gewählt werden? Zudem waren Rechtsfragen und Finanzen zu klären. Bei der ersten Infoveranstaltung gegen die Reichsbürger war der Saal der Werretalhalle voll. Doch dann wurden es immer weniger. „Als wir die Aufgaben verteilt haben, bröckelte die Beteiligung weg“, bilanziert Birtsch. „Plötzlich wurden die Ruderer in der Galere knapp.“ Doch der Kern, dem das Thema am Herzen liegt, ist geblieben. „Dabei gibt es eigentlich gewählte Menschen, die sich darum kümmern sollten. Denn das ist ja der Sinn einer Demokratie – sie werden gewählt und stehen bereit“, fordert Jürgen Birtsch.
Jüngst die Allee des Grundgesetzes, der „Grenzposten für Vollpfosten“ oder Info-Flyer – je nach Aktion erreichen die Bündnis-Mitglieder eine andere Zielgruppe. „Bei unserer Persiflage vor der Botschaft haben wir eher die Jugend angesprochen“, erinnert sich Birtsch. Mit Pickelhaube, Marschmusik und einer roten Nase bauten sie vor der Botschaft den Schlagbaum auf. Jeder kann sich einbringen bei den Bündnistreffen, alle Ideen werden gehört: „Es gibt immer lange Diskussionen, bei denen sich jeder einbringen und seine Ideen nach vorne bringen kann“, wirbt Birtsch für Mitarbeit. Denn nur wer offen sei für Ideen und die Menschen mitnehme, könne Mitstreiter gewinnen. „Wenn man den Erfolg daran misst, wie viele das Bündnis inzwischen kennen – ja, dann sind wir erfolgreich.“ In der Politik allerdings sei es weder akzeptiert, noch etabliert. „Zumindest nichts in der Alltagsrealität.“
“1.000 Lastwagen gemalt”
Pro Natura Leinkamp: Die Hermes-Gegner haben letztendlich verloren. Trotzdem ist Jan C. Feller froh über die Menschen, die er durch den Protest kennengelernt hat
Jahrelang haben sie gekämpft und letztendlich doch verloren. „Trotzdem würde ich mich wieder engagieren“, sagt Jan C. Feller von der Bürgerinitiative Pro Natura Leinkamp. 2012 formierte sich der Widerstand gegen den Hermes-Neubau in Gohfeld, 2013 stieß Feller hinzu und 2014 ließ Hermes die ersten Bagger rollen. „Die Stimmung nach der Niederlage war schon frustriert“, sagt er rückblickend. Einige Mitstreiter seien es heute noch. „Zum Versuch gehört aber das Scheitern dazu – das muss man sich immer vor Augen halten“, sagt Jan C. Feller. Und es brauche ein dickes Fell. „Wir waren für viele immer die grünen Spinner – das war schon diffamierend.“
Der Widerstand war breit gefächert. Von komplett gegen Industrie bis hin zu einer hochwertigen Industrie am Leinkamp war bei den rund 100 Aktiven der Bürgerinitiative alles dabei. „Ich finde den Bau immer noch nicht gut, auch wenn einiges nicht so schlimm geworden ist, wie es alle erwartet haben.“ Trotzdem werde Löhne die negativen Auswirkungen spüren: „Rund 1.000 Lastwagen am Tag verkraftet eine Stadt nicht einfach so“, ist Feller überzeugt. Und diese Lastwagen waren es auch, die die Gegner einst auf Gohfelder Straßen malten. „50 Mann haben 1.000 Lkw gemalt“, erinnert sich Feller. In natura würde die Reihe von Löhne bis nach Bielefeld reichen – Stoßstange an Stoßstange, wie Feller verdeutlicht.
Persönlich betroffen ist Jan C. Feller nicht. „Ich bin kein Anlieger, aber Löhner Bürger“, sagt er. „Ein bisschen Abstand zu den Dingen schadet nie“, findet er. Natürlich müsse irgendwo ein Strommast stehen, eine Mülldeponie gebaut werden, aber „in der Löhner Politik vermisse ich das systemische Denken.“ Die Menschen schauten immer nur einem Laternenpfahl zum nächsten. „Eigentlich müssen wir uns alle vielmehr engagieren.“ Jan C. Feller jedenfalls hat wertvolle Erfahrungen und Kontakte gesammelt durch sein Engagement. „Die menschliche Phase möchte ich nicht missen“, sagt er. „Ich habe Menschen kennengelernt, die sich engagieren und die ich sonst nicht getroffen hätte.“
“Ohne Parteipolitik”
Aktionsbündnis B61: Die Mitstreiter um Dieter Hellweg haben es mit der Politik zusammen geschafft, den Neubau durch die Weserauen zu verhindern
Letztendlich hatten sie die richtigen Argumente, zum richtigen Zeitpunkt und an der richtigen Stelle: Das Aktionsbündnis gegen den Neubau der Dehmer Straße hat es geschafft, die Verlagerung der Dehmer Straße in die Weserauen zu verhindern. „Losschreien nützt nichts“, winkt Dieter Hellweg ab. „Man muss sich stattdessen genau überlegen, wie man vorgeht.“
Auslöser für Hellwegs Engagement war der Entwurf des Bundesverkehrswegeplans 2030, der Anfang 2016 vorgestellt wurde. „Als ich in der NW gelesen habe, dass die Trasse durch die Weserauen führen soll, wusste ich, das wir was tun müssen“, erinnert sich Hellweg. Er schrieb einen Leserbrief und stellte schnell fest: das reicht nicht. „Aber so etwas kann man nicht passiv über sich ergehen lassen.“ Alleine aber sei man schwach, weshalb er andere an Bord holte. „Ich habe rumtelefoniert“, sagt er. Und hatte Ruckzuck Politiker, Landwirte, Umweltschützer und Betroffene an seiner Seite. „Die eigene Überzeugung ist der beste Motor“, sagt Hellweg. Zudem brauche es Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Wichtig war von Anfang an eines: „Wir haben die Parteipolitik rausgehalten. Wir waren gemeinsam dagegen – niemand musste sich profilieren.“
Dann begann die eigentliche Arbeit. Es wurden gezielt Sachargumente gesammelt, die sachlichen und rechtlichen Grundlagen erfragt und ein Sachpunkte-Papier erstellt. Darin enthalten: Eine Argumentation, die in fünf Minuten zu verstehen und nachzuvollziehen ist. Hellweg: „Das war das Schlüssel-Papier. Unser Erfolgsfaktor.“
3.155 Unterschriften hatten die Mitglieder des Bündnisses am Ende gesammelt. „Das Thema war immer präsent in der Öffentlichkeit.“ Zudem seien die Weserauen für viele Menschen das Naherholungsgebiet. „Jeder war dort schon einmal Radfahren oder Spazieren.“ Auch wenn das Credo am Anfang vielfach in die Richtung „Wir können ja eh nichts machen“ gegangen sei, hätten sich viele engagiert. „Unsere Entschlossenheit, die haben die Menschen gespürt“, ist Hellweg überzeugt.“Man nimmt die Menschen mit, wenn man seine eigene Dominanz hinten anstellt und Sachargumente im Vordergrund stehen. Ideal sei zudem auch gewesen, dass das Aktionsbündnis alle an seiner Seite gehabt hätte: Von Stadt, über Kreis bis hin zu den Bundestagsabgeordneten.
Löhne/Bad Oeynhausen. Sieben Lehrer, sieben Elternvertreter und genauso so viele Schüler – sie bilden die Schulkonferenz an jeder Schule. Dass die Jugendlichen eine genauso große Partei bilden, wie die anderen beiden Erwachsenenengruppen, ist kein Zufall.
Die sogenannte Drittel-Parität wurde bewusst eingeführt, um Schülern Partizipationsmöglichkeiten zu geben und ihr demokratisches Verständnis zu fördern. Diese Teilhabe ist nur ein Punkt, wie Demokratie vermittelt werden soll. Sie soll im Alltag präsent sein – also durch die Erziehung zu bestimmten Werten, wie auch Wahlen. Sie ermöglichen die Mitsprache der Schüler und sind oft der erste Kontakt zur eigenen Teilhabe am politischen System.
Ilsa Maria Graf ist seit drei Jahren Schulsprecherin der Bertold-Brecht-Gesamtschule Löhne. Auch, wenn sie beruflich nicht unbedingt in die Politik gehen will, hat sie Spaß an der Arbeit in der Schülervertretung (SV). „Ich will einfach mitbestimmen können, über das, was an der Schule passiert“, so die angehende Abiturientin. Jack Gohlke ist seit der sechsten Klasse in der Schülervertretung an der Gesamtschule Bad Oeynhausen. Ihn reizt die Verantwortung, die man schon früh übernehmen kann: „Mit Lehrern und der Schulleitung zu debattieren ist ein anderes Gefühl, als ,nur’ als Schüler wahrgenommen zu werden. Die SV ist ein sehr gutes Trainingsfeld, sich schon politisch zu engagieren und die Abläufe kennenzulernen.“
Natürlich kann nicht jeder Klassensprecher werden und längst nicht alle Schüler engagieren sich zum Beispiel in der Schülervertretung – von Desinteresse an Politik und Partizipation könne jedoch keine Rede sein, sind sich die Lehrer einig.
„Die Schüler sind schon extrem politisch interessiert – nur schreckt sie die Verpflichtung durch Ämter ab“, meint Sven Eickmeier, Sozialwissenschafts- und SV-Lehrer der Gesamtschule Bad Oeynhausen. „Bei den langen Stundenplänen bleibt kaum Zeit für Hobbies und solches Engagement. Die Parteien müssten sich auch damit beschäftigen, wie sie Jugendliche niederschwelliger, vielleicht für einzelne Projekte, begeistern können.“ Ähnlich sei es mit dem Jugendparlament: „Die Schüler schätzen es als Sprachrohr zum Bürgermeister – aber viele finden keine Zeit mehr dazu, sich einzusetzen.“ Wolfgang Puls, Profilkursleiter an der Bertolt-Brecht-Gesamtschule Löhne, sieht das ähnlich: „Man sollte die Politikverdrossenheit nicht an der Wahlbeteiligung messen. Die meisten Schüler sind motiviert.“
Bei der Diskussion über das Ziel der Klassenfahrt einen Konsens erzielen, über den Einsatz des Geldes für den Pausenhof abstimmen, einen Antrag über die Handynutzung in den Pausen in der SV stellen – das sind praktische Beispiele für demokratische Partizipation im Schulalltag. Die Schüler zu motivieren, mitzuwirken, ist Aufgabe der Lehrer, sagt das Schulministerium. Die fachliche Bildung ist natürlich ebenso wichtig – durch die Behandlung von Themen wie dem Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht oder in Deutsch mit Literatur. Wichtig sei dabei, nicht nur abstrakt über Themen wie die Demokratie zu reden, sondern auf die Wahrnehmung der Schüler einzugehen. „Neulich sagte eine Schülerin, Flüchtlinge seien faul, weil sie nur zu Hause rumsäßen“, erzählt Kirsten Lübbersmeier, Lehrerin an der Gesamtschule Löhne. „Wir haben dann die Gesetze erarbeitet und herausgefunden, dass sie gar nicht arbeiten dürfen. So kann aus einem Vorurteil Wissen werden.“
Aktuelle Themen wie der mögliche EU-Beitritt der Türkei oder die Dekrete des neuen amerikanischen Präsidenten Trump fließen in den Unterricht ein, so Sven Eickmeier. „Dabei spielt die Medienkritik auch eine wichtige Rolle. Wir behandeln immer wieder die Rolle und Funktion der Medien – Demokratiebildung ist schließlich auch Medienbildung.“
Unterstützung vom Schulministerium
Übersicht: Demokratie wird in verschiedenen Projekten vom Land gefördert
Löhne/Bad Oeynhausen. Landesverfassung und Schulgesetz in Nordrhein-Westfalen fordern eine Erziehung „im Geiste der Demokratie“. Das Schulministerium nennt sie ein schützenswertes Gut: „Demokratie und Kultur sind für die Zukunft unserer Gesellschaft genauso wichtig wie grundlegende Kompetenzen in Deutsch, Mathe und Fremdsprachen“. Daher gibt es verschiedene Projekte, die Schulen unterstützen sollen:
- „Demokratische Gestaltung“: In diesem Rahmen sind Merkmale zusammengestellt, die definieren, was Schulqualität ist. Ergänzend bietet das Online-Unterstützungsportal für Lehrer und Interessierte Arbeitsmaterialien, Hintergrundinformationen und Praxisbeispiele zum Thema.
- „Erinnern für die Zukunft“: Mit diesem Konzept will das Schulministerium Impulse für Schulen und die Zivilgesellschaft geben und sie bei ihrer Arbeit begleiten, etwa bei der Behandlung der Gedenktage rund um den Ersten und Zweiten Weltkrieg, der Diktatur des Nationalsozialismus und dem Ende der SED-Herrschaft in der DDR.
- Bildungspartner NRW: Seit 2005 fördert Bildungspartner NRW die Zusammenarbeit von Schulen mit kommunalen Bildungs- und Kultureinrichtungen. Mehr als 1.300 Schulen und über 350 außerschulische Partner sind bereits Bildungspartner NRW.
- Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“: Das Projekt ist ein Netzwerk aus Schülern, die das Klima an ihrer Schule aktiv mitgestalten wollen. Mindestens 70 Prozent aller Menschen, die in einer Schule lernen und arbeiten, verpflichten sich mit ihrer Unterschrift, sich künftig gegen jede Form von Diskriminierung an ihrer Schule aktiv einzusetzen. Dem Netzwerk gehören deutschlandweit mehr als 2.000 Schulen an.
- Förderprogramm „Demokratisch handeln“: Der Wettbewerb wird seit 1990 für alle allgemeinbildenden Schulen in Deutschland ausgeschrieben und unterstützt Projekte, Initiativen und Ideen, in denen das Lernen für Demokratie und Politik um Erfahrungsmöglichkeiten erweitert wird.
- Buddy-Grundschultraining Kinderrechte: 2014 startete in NRW das Programm, das in Kooperation mit Unicef Deutschland entwickelt wurde. Unter dem Motto „Aufeinander achten. Füreinander da sein. Miteinander lernen.“ übernehmen die ,Buddys’ – englisch für Kumpel – Patenschaften für jüngere Mitschüler, helfen anderen beim Lernen, sind Streitschlichter oder Ansprechpartner bei Problemen.
Bad Oeynhausen/Löhne. Seine erste Wahl ist schon ein Weilchen her. Michael Belitz kann sich nicht mehr daran erinnern. Auch wenn der 59-Jährige das angestrengt versucht. Er legt den Kopf schief, fasst mit dem Zeigefinger an die Stirn und stützt sich mit dem Ellenbogen am Tisch ab. Denkerpose. Dann platzt es aus ihm heraus: „Aber das letzte Mal war toll!“ Am Abend der Kommunalwahl war Belitz im Löhner Rathaus mit vielen anderen Menschen und hat dem neuen Bürgermeister die Hand geschüttelt.
Michael Belitz ist auf einem Auge blind, kann kaum lesen und schreiben und versteht nur kurze Sätze. Der gebürtige Mindener hat lange auf dem Wittekindshof in Bad Oeynhausen gelebt, gehört dort zum Expertenteam für „Leichte Sprache“ und ist inzwischen in Löhne zuhause. Dort hat er eine eigene Wohnung, arbeitet in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen und wird in einigen, aber nicht in allen Angelegenheiten durch einen vom Gericht bestellten Betreuer vertreten.
Belitz ist Wahl-Profi, sein Kreuz zu machen, den Stimmzettel in die Urne werfen, das ist für ihn selbstverständlich, er macht das gern und braucht dabei auch keine Hilfe. Für viele Menschen mit Behinderungen war das aber bisher nicht so. Zur Landtagswahl im Mai in Bad Oeynhausen dürfen nun erstmals etwa 500 Menschen wählen, die noch bei der Bundestagswahl ausgeschlossen waren. In Löhne sind es etwa 30 Menschen, die bisher nicht an die Wahlurnen durften.
Gerichte konnten bisher Behinderten, die in allen Belangen gesetzlich betreut werden, das Wahlrecht entziehen. Entmündigungen gibt es zwar nicht mehr, seit 1992 das Betreuungsrecht in Kraft getreten ist. Der Entzug des Wahlrechts war aber ein Überbleibsel dieser bevormundenden Denkweise.
Das wird in Deutschland jetzt mit unterschiedlicher Geschwindigkeit geändert. Während im Mai totalbetreute Menschen mit Behinderungen den Landtag wählen dürfen, bleiben sie im September zur Bundestagswahl ausgeschlossen. Ein klarer Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention, die der Bundestag bereits im Jahr 2009 beschlossen hat. Aber sollte ein Mensch, der sich nicht selbstständig eine Zeitung kaufen kann, wählen dürfen? Mit dieser Frage hat der CDU-Bundestagsabgeordnete Günter Krings 2013 Zweifel an der Urteilsfähigkeit von Behinderten geäußert.
Michael Belitz liest keine Zeitung, aber er ist trotzdem hervorragend informiert. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehsender Phoenix schaut er sich gerne Bundestagsdebatten an. Zur Verblüffung des Reporters kann er aus dem Stegreif über den aktuellen Stand von Gesetzesvorhaben berichten, die „erst noch durch den Bundesrat müssen“. Außerdem informiert er sich über Internetseiten in „Leichter Sprache“. Und am Arbeitsplatz lässt er sich manchmal Zeitungsartikel vorlesen. Belitz weiß, wo er sein Kreuz setzt und welche Politik und welchen Politiker er damit unterstützt. Er trägt sein Herz auf der Zuge: „Hannelore Kraft ist eine Powerfrau“, sagt er begeistert. Mit ihr hat er schon persönlich gesprochen. Helmut Kohl hat er auch schon getroffen – und ausgebuht.
Menschen, die in allen Angelegenheiten gesetzlich betreut werden, sind bestimmt nicht alle so politisch wie Belitz, aber das sind die meisten Wähler ohne Behinderungen auch nicht. Behinderte nutzen eben andere Wege der Meinungsbildung. Natürlich gibt es Menschen, die zum Beispiel wegen einer Hirnverletzung nicht mehr in der Lage sind, ein Kreuz auf dem Stimmzettel zu machen. Aber das ist das Schöne am Wahlrecht: Niemand wird zum Wählen gezwungen, möglicherweise steigt die Zahl der Nichtwähler.
Die Möglichkeit zur Stimmabgabe kann allerdings schon an kleinsten Hindernissen scheitern. Die Wahllokale in Bad Oeynhausen und Löhne sind fast alle barrierefrei. Sind sie es nicht, wird auf der Wahlbenachrichtigung über Alternativen informiert. Und wer Hilfe braucht in der Wahlkabine, kann sich vertrauensvoll an den Wahlvorstand im Wahllokal wenden. Die ehrenamtlichen Wahlhelfer dürfen auch beim Ankreuzen helfen und müssen den Wählerwillen befolgen.
Der Landeswahlleiter in Düsseldorf gibt zudem erstmals eine Broschüre in „Leichter Sprache“ heraus. Darin wird erklärt, wie man wählt. Sie ist ähnlich gestaltet wie die von Rheinland-Pfalz, wo der Landtag schon im letzten Jahr gewählt wurde. Michael Belitz findet die Broschüre gut. Er hat aber auch Verbesserungsvorschläge. Darin abgebildet ist auch ein Stimmzettel. „Das sind furchtbar viele Buchstaben“, sagt er. Abkürzungen für die Parteien kann er sich leichter merken, aber: „Wahlzettel mit Fotos finde ich besser.“
Herr Heinze, Bundespräsident Joachim Gauck hat in seiner Abschiedsrede gesagt, er sehe die Demokratie in Deutschland in Gefahr. Sehen Sie das auch?
Rolf Heinze: So generell nicht, man muss erst mal definieren, was man unter Gefahr versteht. Studien haben eindeutig gezeigt, dass das Vertrauen in die grundsätzliche Idee der Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit sehr hoch ist; dagegen nimmt das Vertrauen in Politiker und Parteien ständig ab. Wir haben eine Krise der Repräsentanten. Scheinbar haben die Eliten auch Fehler gemacht beziehungsweise Versprechungen gegeben, die in den Augen der Bürger nicht eingelöst werden.
Gauck kritisiert das Anspruchsdenken der Bürger, die den Staat als Dienstleister sehen. Wie kann man Bürger motivieren, sich selbst politisch zu engagieren?
Heinze: Was das grundsätzliche Engagement betrifft, gibt es ja schon eine Steigerung – allerdings manchmal etwa bei der Wahlbeteiligung anders als erwartet und erhofft. Bislang haben überwiegend die Rechtspopulisten profitiert, indem, sie beispielsweise Nichtwähler aktiviert haben.
Was müssen die etablierten Parteien anders machen?
Heinze: Die Politiker haben immer viel versprochen und sich nicht getraut, offen zuzugeben, dass sie nicht alle Hoffnungen der Bürger erfüllen können. Denken Sie derzeit nur an die Zuwanderung und soziale Ungleichheiten. Die Bürger spüren, dass vieles noch nicht reibungslos läuft und Herausforderungen wie die Digitalisierung auch mit Risiken verbunden sind, über die die Politik oft nicht hinreichend spricht. Deshalb wächst das Misstrauen gegenüber den Politikern und deren Versprechungen einer harmonischen Welt, gefragt sind realistische Einschätzungen, sonst wächst die Politik- oder besser Politikerverdrossenheit weiter.
Mal abgesehen vom Protest gegen den Bau der Nordumgehung, der immerhin zur Gründung einer Partei der BBO geführt hat – fast immer entzündet sich neues politisches Engagement nur solange persönliche Interessen berührt sind. Wie lässt sich Engagement über die eigene Betroffenheit hinaus für das gesamtstädtische Interesse entwickeln?
Heinze: Sie haben Recht, zumindest bei Großprojekten werden Bürger nur aktiv, wenn vor ihrer Haustür etwas geschieht. Das könnte anders werden, wenn es insbesondere den Kommunalpolitikern gelingt, die direkte Kommunikation mit den Bürgern zu verbessern und neu zu organisieren. Wir brauchen Begegnungsräume, in denen Alt und Jung, Zuwanderer und Einheimische, unterschiedliche Gruppen also, in den Dialog treten. Das gilt auch bei Großprojekten, bei denen die Bürger frühzeitig einbezogen werden sollten, um auch noch Gestaltungsspielräume auszuloten.
Sie selbst haben in Ihren Forschungen das Quartier, also nicht nur die Stadt, in den Mittelpunkt gerückt. Warum sollte sich Politik auch um das nähere Wohnumfeld kümmern?
Heinze: Dafür gibt es im wesentlichen zwei Gründe. Ältere Menschen wollen möglichst lang selbstständig zu Hause leben, da gewinnt die Versorgung mit Ärzten, Geschäften und Freizeitangeboten an Bedeutung. Die zunehmende Globalisierung und der Mobilitätsdruck führen zudem auch bei Jüngeren zu einer subjektiven Verunsicherung, da wächst die Sehnsucht nach Geborgenheit im Quartier, im Freundeskreis.
Bei den letzten Kommunalwahlen lag die Wahlbeteiligung in Bad Oeynhausen und Löhne deutlich unter 50 Prozent. Was müssen die Parteien bis zur nächsten Wahl tun, um mehr Wähler zur Stimmabgabe zu bewegen?
Heinze: Schauen Sie doch mal auf die letzten Landtagswahlen, da gab es schon eine gestiegene Wahlbeteiligung, aber die hat zu Ergebnissen geführt, die die etablierten Parteien auch so nicht wollten. Ich habe den Eindruck, dass die politischen Parteien jetzt manchmal Angst vor den Bürgern haben. Das Regieren wird schwieriger, weil man keine festen Mehrheiten hat und sich ganz neue Konstellationen auftun. Davon unabhängig ist es wichtig, besonders die jungen Leute zu motivieren zur Wahl zu gehen.
Wie kann bei Jugendlichen frühzeitig ein politisches Bewusstsein entwickelt werden?
Heinze: Da sind nicht nur Eltern und Lehrer als Vorbilder gefragt. Die Parteien müssen sie dort erreichen, wo sie sich tatsächlich bewegen, also insbesondere die sozialen Medien viel stärker nutzen als bisher. Häufig erfolgt Kommunikation nur innerhalb von digital vernetzten Gruppen, also wie in einer Blase. Das ist insofern problematisch, weil so kaum ein echter Meinungs- und Informationsaustausch möglich ist.
Innerhalb von zehn Jahren hat sich die Mitgliederzahl der SPD- und CDU Mitglieder allein in Bad Oeynhausen um rund ein Drittel reduziert, die FDP hat sich halbiert, die übrigen Parteien sind zwar stabil, aber auf niedrigem Niveau, weisen etwa zehn bis 20 Mitglieder aus. Welche Erklärung gibt es dafür aus Sicht eines Soziologen?
Heinze: Diese Entwicklung betrifft nicht nur die Parteien, sondern auch andere Institutionen wie Gewerkschaften und Kirche. Viele Menschen wissen nicht mehr, was auf sie zukommt: befristete Arbeitsplätze, Flexibilisierungsstrategien, aber auch ökologische Risiken sorgen zunehmend für Unsicherheit. Die klassischen Organisationsformen passen immer weniger dazu.
Sportvereine bieten schon befristete Mitgliedschaften an. Wäre das auch für Parteien eine Alternative?
Heinze: Es gibt keine Patentrezepte, wir brauchen erst eine nüchterne Analyse, was den Menschen wichtig ist und dann die Bereitschaft zu Experimenten. Fest steht auf jeden Fall, dass wir starke Individualisierungstendenzen haben und deshalb flexible Organisationsformen anbieten müssen. Auch bei den Parteien und Institutionen ist größere Flexibilität erforderlich, 40 Jahre Mitgliedschaft wird es in der jungen Generation nicht geben.
Bei den letzten Kommunalwahlen haben Grüne und BBO als dritt- und viertstärkste Fraktionen in Bad Oeynhausen jeweils rund zehn Prozent der Stimmen bekommen. In absoluten Zahlen sind das 1.809 beziehungsweise 1.609 Stimmen – in Bad Oeynhausen waren 39.644 Menschen wahlberechtigt. Ist das noch repräsentative Demokratie?
Heinze: Im formalen Sinne sicher, inhaltlich darf man da allerdings Zweifel hegen. Ich bin gespannt, wie das nach den nächsten Wahlen im Land und im Bund ausgeht. In jedem Fall gilt auch auf kommunaler Ebene: Das Regieren wird noch schwieriger.
Sie gehörten mal zur Beratergruppe von Bundeskanzler Gerhard Schröder, sind jetzt in der Beratungsgruppe der Bundesregierung für den 7. Altenbericht. Wurden Sie auch schon von Politikern in Ihrer Heimatstadt Bad Oeynhausen um Rat gefragt?
Heinze: Bisher hat mich hier noch keiner direkt gefragt.
Warum stellen Sie Ihr Wissen dann nicht direkt durch eigenes politisches Engagement zur Verfügung?
Heinze: Mal abgesehen davon, dass ich beruflich stark eingespannt bin und ich mich unter anderem ehrenamtlich im Stiftungsrat des Wittekindshofes engagiere. Ich möchte mir die Freiheit des Wissenschaftlers erhalten, deshalb kommt ein Beitritt zu einer Partei für mich nicht in Frage.